Wir hören: Leningrad

Dienstag, 18. November 2014

Außerhalb Russlands wird die St. Petersburger Gruppe Leningrad ihres Namens wegen oft mit zwei anderen Bands verwechselt: Die finnische Blödelband Leningrad Cowboys und 44 Leningrad aus Potsdam tragen ebenfalls die sowjetische Stadt im Bandnamen. Damit sind alle Gemeinsamkeiten im Grunde schon genannt. Der größte Unterschied: Nur im Œuvre der russischen Leningrad findet sich kein einziges jugendfreies Lied.
SERGEY SHNUROV + LENINGRAD
Ihre Lieder drehen sich um intensiven Alkoholkonsum und um alles, was damit scheinbar besser läuft. Passend zum Themenkreis sind die Texte in Mat abgefasst und und strotzen nur so vor Schimpfwörtern und Obszönitäten. „Mat“ ist der Name der russischen Vulgärsprache, die auf Sprachsysteme der kriminellen Unterwelt zurück geht. Zu Sowjetzeiten war Mat daher tabuisiert, aber auch heutzutage wird es nicht gern gehört. Kein Grund für die selbsternannte „Gruppirovka“ (Bande) Leningrad, es nicht zu benutzen.
Oder andersherum gesagt: Ein Grund, Mat zu benutzen. Sowohl die Texte als auch die Musiker selbst schwanken ständig zwischen Pose und Authentzität, Schweinerei und Subversion, Kommerz und Gesellschaftskritik. Allen voran Sergey „Shnur“ Shnurov (Сергей Шнуров), Sänger und Frontmann der Band, der neuerdings für Potenzpillen wirbt. Das beschädigt sein Image keineswegs, denn die Wahl des Produkts ist typisch für Shnur und das Thema selbst ist auch nicht verpönt. Werbespots für Potenzmittel laufen im russischen Fernsehen absolut selbstverständlich zwischen Werbung für Shampoo und Autos. Zugegebenermaßen heben sich die Spots mit Shnur von den eher peinlichen Filmchen der Konkurrenz qualitativ deutlich ab. So darf Shnur auf weiterhin steigende Popularität hoffen und verdient zudem eine ordentliche (Achtung Kalauer!) Stange Geld.
Trotz mehrjähriger Trennung und ständiger Transformation steht eine treue Fangemeinde hinter der Band, von weiten Teilen der Gesellschaft dagegen wird sie von Herzen gehasst. So wunderte ich mich auch nicht, als mir einmal der Verkäufer eines Kaliningrader Musikgeschäftes das Album Маде ин жопа (Hergestellt im Hintern) partout nicht verkaufen wollte. Das ist doch nichts für Mädchen! Mit Kopfschütteln reagierte er auf meinen Einwand, dass in Berlin auch Mädchen dazu ausgelassen tanzen würden, und versuchte mich stattdessen für die Single von 5'nizza zu erwärmen. Die damals angesagte ukrainische Reggae-Band ist längst in der Versenkung verschwunden (Update 2015: Nein, nach 10 Jahren sind auch sie wieder da!), Leningrad gibt es noch immer – bzw. seit der Reunion 2010 wieder. Mittlerweile haben die ersten Bandmitglieder die magische Vierzig überschritten – mal sehen, wie lange die Leber noch hält.
Mehr über Leningrad auf www.eastblok.de
WWW
Ein Klassiker aus dem Jahre 2002: Der sturzbesoffene Ich-Erzähler wird von der Polizei angehalten, die Einsicht in seine Papiere nehmen will. Doch er ist gar nicht registriert und will sich auch nicht an seinen Wohnsitz erinnern. Heutzutage gebe es keine Straßen und Hausnummern mehr, belehrt er die Beamten, seine Adresse sei jetzt die: www.leningradspb.ru (Das war die damalige Domain der Band. SPB steht für St. Petersburg). Dabei wird ein sowjetisches Propagandalied verballhornt, in dem es heißt: „Meine Adresse ist nicht Haus (-Nummer), nicht Straße – meine Adresse ist: Sowjetische Union“.
Рыба (riba, Fisch)
Seit der Reunion der Band gesellt sich ein weibliches Pendant zu Shnurs nikotingestählter Wolfsstimme. Auf Jazz-Sängerin Yuliya Kogan folgte 2012 die jüngere Alina Vox-Burmistrova.
Der titelgebende Fisch ist – wenig überraschend – eine sexistische Metapher: „Ich habe schon viele verschiedene Fische geliebt [Piiiiiep ...] Aber nur du – du bist der Fisch meiner Träume!“
Плачу (platshu, Ich weine)
Russisch ist die Sprache der Wahrheit! Wer es nicht glaubt – hier ist der Beweis: In der ersten Person Singular unterscheiden sich „weinen“ und „(be-)zahlen“ einzig durch die Betonung voneinander: Я плачу и плачу – Ich zahle und weine – eine Elegie über das Leben, in dem frau für einfach ALLES blechen muss – angefangen vom Quark für die Gesichtsmaske, über Antidepressiva, Dauerwelle und Leopardenmantel hin bis zur Schönheits-OP. Ja, sogar für die Waffe für den Selbstmord. Nichts wird einem geschenkt!
Дорожная (doroschnaja; in etwa: Lied vom Unterwegssein)
Theaterprobe. Regisseur Shnur ist mit allem unzufrieden, die Ballerina verlässt heftig fluchend die Bühne. Der Hauptdarsteller (Leningrad-Schlagzeuger „Puso“) steht da wie ein Elefant und begreift auch nicht den Sinn seines Textes. Shnur erklärt, es gehe um einen Abschied. Darum mehr Emotionen bitteschön! Das gelte auch für Anna Petrovana! Die schüchterne Kostümbildnerin muss als Ersatz für die Tänzerin herhalten und Pusos Schimpftirade über sich ergehen lassen: „Ich werde mir eine Schlange oder eine Schildkröte kaufen / Aber dich liebe ich nicht – geh, geh zum [Piep]*! Für immer! [...] Früher lebte ich vergnügt, doch mit dir habe ich mir etwas aufgehalst! / Hätte ich doch besser mit einer Schildkröte zusammen gelebt – geh, geh zum [Piep]*! Für immer! “ Eigentlich jedoch, verrät der Regisseur nach der Premiere, handele das Stück vom Konflikt des Kreml mit der Opposition, wobei nicht ganz klar wäre, wer die Schlange und wer die Schildkröte sei.
Weitere Videos auf der Seite der Band www.sosimc.ru
Discografie von Leningrad und diverser Nebenprojekte sowie Shnurs Soloalben auf der Fan-Site shnur.tv
Mat und „Mutterflüche“ – einfach erklärt für Deutsche
Exkurs über das Schimpfen in Russland: www.russian-online.net, * siehe 6. Punkt
Kurzer Artikel mit Anwendungsbeispielen: www.n-tv.de

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